Der Wille
Gibt es ihn überhaupt?
Diese zentrale Frage bewegt die Menschen seit jeher. In den letzten Jahren mehren sich die neurowissenschaftlichen Studien zu diesem Thema und zeigen, dass im Gehirn Aktivitäten nachgewiesen werden können, die auf einen freien Willen schliessen lassen.
Diese Ergebnisse bestätigen die Auffassung der Psychosynthese. Sie versteht den Willen als essenziellen Ausdruck unserer Autonomie und Einzigartigkeit. Erwägen, wählen, entscheiden, eine Handlung ausführen oder einen Impuls hemmen sind alles Manifestationen des Willens, die zum Ausdruck bringen was wir wertschätzen, wie wir unsere Prioritäten setzen. Auf diese Weise offenbaren wir, wer wir sind.
Die Psychosynthese vermittelt den Zugang zum Willen als unmittelbare, lebendige Erfahrung. So kann jeder, der es will, sich vergewissern, dass der freie Wille eine Wirklichkeit ist.
An zentraler Stelle
Die Psychosynthese erachtet den Willen als wesentliche Funktion des Menschen, die unmittelbar mit dem Bewusstseinszentrum, dem Ich, verbunden ist. Folgendes Sterndiagramm veranschaulicht die entsprechende psychologische Konstellation:
Das Zentrum ist das Ich(8) mit dem Willen (7) unmittelbar darum. Die Strahlen stellen die anderen psychologischen Funktionen dar, welche sind: Empfindung (1), Emotion/Gefühl (2), Imagination (3), Impuls/Wunsch (4), Gedanke/Denken (5), Intuition (6).
Eine integrierte und zentrierte Person kann durch ihren Willen alle Funktionen der eigenen psycho-physischen Ganzheit verbinden, aufeinander abstimmen und absichtsvoll nutzen.
Diese Darstellung verdeutlicht auch, dass die Erfahrung von „Ich bin“ eng verknüpft ist mit der Kompetenz, Kraft und Dynamik des Wollens. Wo diese Kraft dysfunktional ist oder gar fehlt, machen sich allerhand psychische Probleme breit wie Depression, Antriebslosigkeit, Selbstzweifel, Ängste, Minderwertigkeitsgefühle usw.
Nicht Diktator sondern Dirigent
Der Wille steht gelegentlich im Verruf diktatorisch, rücksichtslos oder hart zu sein. Dies ist jedoch nur eine Verzerrung seiner wahren Qualität. Für Assagioli ist er eine lenkende und integrierende Kraft. Mehr als andere Faktoren ist er der Schlüssel zur menschlichen Freiheit und Selbstbestimmung.
Wie äussert sich der wahre und gesunde Willen im praktischen Leben? Ein erstes Merkmal ist Bewusstheit. Als enger "Verbündeter" des Ich, dem Bewusstseinszentrum, ist sein Wirken von Gewahrsein und Intention begleitet. Sodann erkennt man ihn an seinen koordinierenden Fähigkeiten. Er kann Optionen abwägen, Entscheidungen treffen, Absichten verfolgen, Interesse lenken, Aufmerksamkeit mobilisieren, Hindernisse überwinden, Impulse bestärken oder hemmen, Geduld aufbringen und Hingabe pflegen.
Ein solch meisterlicher Einsatz des Willens ist wohl erstrebenswert, jedoch keinem einfach in die Wiege gelegt. Daher lehrt die Psychosynthese den Willen durch gezielte Schulung zu entwickeln, und bietet eine Auswahl an Übungen, durch die man seine Wirkkraft erweitern und differenzieren kann.
Eine Kraft mit vier Aspekten
Um den Willen gut zu nutzen, ist es hilfreich, ihn in seinen verschiedenen Aspekten zu kennen:
die Kraft, das Wohlwollen, die Weisheit und die Sinntiefe.
Der starke Wille steht für die Energie, die wir in eine Aktion fliessen lassen, die Ausdauer, mit der wir ein Vorhaben verfolgen, sowie die physische Anstrengung, die wir dabei investieren.
Der gute Wille lässt sich von Mitgefühl und Weitblick leiten und überwindet Egozentrik und Egoismen. Er verfolgt Ziele und Absichten, die so weit wie möglich keinen Schaden verursachen. Mit seinem Aspekt des Wohlwollens bildet er die Verbindung des Willens zur archetypischen Qualität der Liebe.
Der geschickte Wille weiss, wie man mit dem geringsten Aufwand das bestmögliche Resultat erzielt. Dazu ist es unerlässlich, die Gesetzmässigkeiten der menschlichen Psyche gut zu kennen. Assagioli hat diese als die zehn psychischen Gesetze formuliert.
Der transpersonale Wille ist der Antrieb, die eigene Lebensabsicht zu verwirklichen. Er zeigt sich als Sehnsucht nach einer tieferen Erfüllung, jenseits der personalen Ziele wie Karriere, Familie und Eigenheim. Man vernimmt ihn als „Ruf“ oder „Drängen“ und als innere Führung. Wenn der personale Wille mit dem transpersonalen Willen in Resonanz steht, ist das Leben auch in schwierigen Situationen begleitet von einem Gefühl der Richtigkeit und Leichtigkeit.
Erfahrung des starken Willens - Übung auf Audio-Datei
Übungen zur Schulung des Willens
Übung: den starken Willen trainieren
Ein Ansatzpunkt, um den starken Willen zu trainieren, ist, Dinge zu tun, die ausserhalb unserer Gewohnheiten und der täglichen Routine sind. Das Unterbrechen der Routine und die Entscheidung, etwas anderes oder anders zu tun als gewöhnlich, mobilisiert den Willen und bringt Bewusstheit in die Handlung.
Einen zweiten Ansatzpunkt, um den starken Willen zu üben, ist, Dinge zu tun, die keinen Sinn machen, und daher keinen weiteren Gewinn bringen als den einer blossen Willensübung.
Folgende Übung kombiniert beide Aspekte.
Entscheide dich, eine Sache, die du routinemässig immer auf die gleiche Art tust, für einmal auf andere Weise zu tun.
Beispiele:
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Wenn du gewöhnlich deine Zähne mit der Zahnbürste in der rechten Hand putzt, tue es einmal mit der linken Hand.
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Wenn du üblicherweise morgens zum Frühstück einen Kaffee trinkst, entscheide dich für ein anderes Getränk.
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Wenn du am Esstisch immer am gleichen Platz sitzt, ändere einmal deine Position. usw.
Das Durchbrechen der Routine sowie die eigentliche Sinnlosigkeit, eine Routine zu unterbrechen, sorgen dafür, dass für diese Übung der starke Wille mobilisiert wird. Tue diese Übung täglich mindestens einmal während mindestens 10 Tagen. Beachte, was dabei in dir vorgeht und wie du es tust.
Übung: den guten Willen trainieren
Erich Kästner hat gesagt: "Es gibt nichts Gutes, ausser man tut es!" Ich sage lieber: "Es gibt viel Gutes, und es gibt noch mehr Gutes, wenn man seinen eigenen Beitrag dazu leistet!"
So lautet das Motto des guten Willens.
Wer seinen guten Willen erproben und trainieren will, findet täglich tausend Gelegenheiten dazu.
Überlege dir etwas, das du tun könntest, um die Welt, in der du lebst, zu einen besseren Ort zu machen.
Es sollte in diesem Fall kein grosses Projekt sein, sondern etwas, was du in deinen Alltag ohne zu viel Aufwand integrieren kannst.
Vorschläge:
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Überall auf den Strassen, in den öffentlichen Verkehrsmitteln oder Parkanlagen liegen achtlos hingeworfene Bierdosen, Zeitungen, Plastiktüten usw. Anstatt einfach daran vorbeizuschauen oder dich darüber zu ärgern, lies sie auf!
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Es gibt viele Gelegenheiten im Laufe eines Tages, einem Mitmenschen etwas Gutes zu tun, etwas das die Anonymität und Gleichgültigkeit zufälliger Begegnungen durchbricht, zum Beispiel einer Kassiererin ein Lächeln schenken, einem Obdachlosen ein Sandwich spendieren oder in einem geschäftlichen E-Mail dem Empfänger auch ein paar freundliche, persönliche Worte schreiben.
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Wir stehen täglich mit vielen Menschen in Beziehung, am Arbeitsplatz, in der Freizeit, in der Familie. Dabei gibt es unzählige Momente, wo wir unser Gegenüber nicht verstehen, uns über sie oder ihn ärgern oder gar Ablehnung spüren. Anstatt dies einfach hinzunehmen, halte einen Moment inne, versetze dich mit gutem Willen in die Situation deines Gegenübers und schau, ob du etwas Empathie oder Verständnis für sie oder ihn gewinnen kannst.
Entscheide dich für eine Handlung aus den obigen Vorschlägen oder für eine, die du dir selber ausdenkst, mit der Absicht, deinen guten Willen zu trainieren. Tue sie täglich während eines Zeitraums von mindestens 10 Tagen und beobachte, was du erfährst und wie sie sich in deinem Leben auswirkt.
Auf der Grundlage folgender Gesetzmäßigkeiten basieren die Übungen zur Schulung des geschickten Willens.
Die zehn psychologischen Gesetze
von Roberto Assagioli
Gesetz I
Vorstellungen oder mentale Bilder und Ideen haben die Tendenz, die körperlichen Bedingungen und die äußeren Handlungen zu erzeugen, die diesen entsprechen.
Gesetz II
Einstellungen und Handlungen haben die Tendenz, entsprechende Bilder und Ideen hervorzurufen, diese wiederum evozieren oder verstärken (dem nächsten Gesetz entsprechend) entsprechende Emotionen und Gefühle.
Gesetz III
Ideen und Bilder haben die Tendenz, Emotionen und Gefühle zu erwecken, die diesen entsprechen.
Gesetz IV
Gefühle und Eindrücke haben die Tendenz, Ideen und Bilder zu erwecken und zu verstärken, die diesen entsprechen oder mit ihnen verbunden sind.
Gesetz V
Bedürfnisse, Triebe und Begierden haben die Tendenz, entsprechende Bilder, Ideen und Gefühle zu erwecken. Nach Gesetz I führen Bilder und Ideen zu entsprechenden Handlungen.
Gesetz VI
Aufmerksamkeit, Interesse, Bestätigungen und Wiederholungen verstärken die Ideen, Bilder und psychischen Gebilde, auf die sie sich konzentrieren.
Gesetz VII
Wiederholte Tätigkeiten steigern den Drang zu weiteren Wiederholen und machen ihre Durchführung leichter und besser, bis sie unbewusst ausgeführt werden.
Gesetz VIII
Alle verschiedenen Funktionen und ihre vielfältigen Kombinationen in Komplexen und Teilpersönlichkeiten wählen Mittel zur Erreichung ihrer Ziele ohne unsere Bewusstheit, ja unabhängig davon und selbst gegen unseren bewussten Willen.
Gesetz IX
Triebe, Begierden und Gefühle haben die Tendenz und das Verlangen nach Ausdruck.
Gesetz X
Die psychischen Energien finden Ausdruck:
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direkt (Entladung – Katharsis),
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indirekt durch symbolische Handlung,
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durch einen Umwandlungsprozess.
Erfahrungsbericht zum transpersonalen Willen
Marianne, eine 46-jährige Frau, erzählt von ihrer Auseinandersetzung mit dem transpersonalen Willen und ihrer Lebensaufgabe.
Seit einiger Zeit beschäftigt mich die Frage, wie ich meine Lebensaufgabe verwirklichen kann. Wie fügt sich das zusammen, was ich will (personaler Wille), und das, was von einer höheren Ebene von mir gewollt wird (transpersonaler Wille). Folgender Traum hat mir eine symbolische Antwort gegeben:
Ich stehe auf einem Platz. Ich weiss, dass ich hier stehe, weil ich einen Tanz gelernt, eine Choreographie einstudiert habe, und ich habe viel geübt. Nun stehe ich da und warte oder suche die Gelegenheit und vielleicht auch den Tanzpartner, wo ich meine Fähigkeiten und mein erworbenes Können zeigen, leben und zum Ausdruck bringen kann.
Und wie ich dastehe tritt ein grosser Mann von hinten an mich heran. Ich habe ihn nicht kommen sehen. Zwei kräftige Arme umfassen mich und heben mich hoch, etwa 10-15 cm vom Boden. Die Nähe und Verbindung, die entsteht, ist sehr angenehm. Ich kann es geschehen lassen. Nun fängt er an mit mir Tanzschritte zu machen, sich auf dem grossen Platz zu bewegen. Ich bin ganz von der Bewegung ausgefüllt und bemerke dabei, dass meine Füsse den Boden gar nicht berühren - ich werde gehalten und geführt.
Nun wird mit klar, alles, was ich an Tanzschritten gelernt und geübt habe, dient jetzt dazu, harmonisch in die Bewegung einzustimmen, mit ihr zu fliessen. Meine Aufgabe ist, darauf zu achten, dass ich nicht durch eigene Vorstellungen und Impulse den Bewegungsfluss störe oder zum Stocken bringe.
Die Verbindung mit dieser grossen Person, die mich von hinten führt, besteht aus Liebe, einer Liebe die trunken macht und erfüllend ist. Ich gebe mich hin.
Dieser Bericht schildert in einem treffenden Bild, wie sich der transpersonale und der personale Wille miteinander verbinden und ergänzen. Der transpersonale Wille, im Traumbild als grosser Mann wahrgenommen, übernimmt kraftvoll die Führung, wenn die Person dazu bereit ist. Der personale Wille, dessen Aufgabe es war (in der Sprache des Traums) Tanzschritte zu üben und eine Choreographie einzustudieren, hat seine Aufgabe erfüllt und vollendet sie in der Hingabe an diese neue Führung in einer grösseren Dimension.