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Disidentifikation

Eine Erklärung

Die Disidentifikation ist eine wichtige Etappe im Prozess der Selbstbewusstwerdung. Sie ist die Fähigkeit des Bewusstseins um sich selbst zu wissen.

 

Bei den meisten Menschen ist das Bewusstsein oder die Erfahrung gewahr zu sein jedoch so stark von den jeweiligen Inhalten der ständig stattfindenden Erfahrungen gefesselt, – von den Gefühlen, Gedanken, Sinnesempfindungen und Körperwahrnehmungen – dass das Gewahrsein oder das Bewusstsein selbst übersehen wird.

 

Die Disidentifikation ist der Vorgang durch das sich das Bewusstsein von den Inhalten der Erfahrungen differenziert, die Natur des Gewahrseins offenbart und die bewusste Präsenz als Grundlage jeder Erfahrung freilegt.

ICH BIN

Halten Sie einen Moment inne und realisieren Sie ganz bewusst: ICH BIN. 

Nicht mehr… nicht weniger… einfach: ICH BIN.

 

Diese Erfahrung „ich bin“ – Sie haben es vielleicht gemerkt – ist völlig nackt, ganz existentiell und absolut gewiss. Es gibt nichts, das so gewiss ist, wie der Moment, in dem wir uns unserer eigenen Bewusstheit bewusst sind. Diese fundamentale Erfahrung der Selbst-Bewusstheit, diese Fähigkeit zur Selbstreflexion, ist eine Blüte der Evolution des Bewusstseins und für den heutigen Menschen zugänglich.

Obwohl dieser Bewusstseinszustand im Grunde selbstverständlich ist, verweilen die meisten Menschen für gewöhnlich nicht in diesem Gewahrsein. Für viele ist diese reine und klare Form der Selbst-Bewusstheit mehr implizit als explizit. Sie wird verschwommen oder verzerrt erfahren, weil sie von den Inhalten des Bewusstseins überlagert wird. Der ständige Einfluss von Sinneseindrücken, die auf uns einwirken, die Gedanken und Gefühle, die uns bewegen, sowie die Rollen, die wir im Alltag bekleiden, haben die Tendenz, die Klarheit des Bewusstseins zu verschleiern. So neigt das Ich, sich mehr mit den jeweiligen Inhalten des Bewusstseins als mit dem Bewusstsein selbst zu identifizieren.

 

Wollen wir unsere Selbst-Bewusstheit explizit, klar und lebendig erfahren, müssen wir uns zuvor von den Inhalten des Bewusstseins disidentifizieren.

Schleier des Bewusstseins

Für gewöhnlich sind die meisten von uns mit dem Teil ihrer selbst identifiziert, das von Moment zu Moment das grösste Gefühl von Lebendigkeit gibt und am meisten real erscheint. Diese Identifikationen können viele verschiede Formen annehmen.

 

Gewisse Menschen sind besonders mit ihren Gefühlen identifiziert. Sie nehmen sich selber vor allem in Bezug auf ihre Gefühle und Emotionen wahr, agieren oder reagieren vor allem aufgrund von Stimmungen. Und da diese von Natur aus wechselhaft sind, schwankt das Ich von freudig über ärgerlich zu traurig, fast wie auf einer Achterbahn.

 

Andere Menschen haben die Tendenz, sich mit ihrem Körper zu identifizieren. Sie erfahren und verhalten sich so, als ob sie der Körper sind. Ist der Körper müde, dann sagen sie: Ich bin müde. Ist der Körper krank, wird die Krankheit zu einer umfassenden Identität, welche das ganze Leben bestimmt.

 

Dann gibt es Menschen, die mehr mit ihrem Verstand und ihrem Denken identifiziert sind. Für sie spielt sich das Leben vor allem auf der schmalen Spur rationaler Erwägungen ab, während Körperempfindungen und Gefühle tendenziell ein Schattendasein führen.

 

Und darüber hinaus gibt es die Identifikationen mit den Rollen und Funktionen, die wir im Leben innehaben, wie zum Beispiel „Vater“, „Mutter“, „Geschäftsfrau“, „Ehemann“, „Tochter“, „Angestellter“ usw.

 

Auf diese Weise haben wir alle ein Sortiment an Identifikationen, entsprechend unseren eigenen Neigungen und Präferenzen. Doch all diese Identifikationen, so nützlich und unumgänglich sie im Alltag auch sind, repräsentieren immer nur einen begrenzten Teil und Ausdruck dessen, wer wir sind. Sie verhindern oder limitieren den Ausdruck anderer Aspekte unserer Persönlichkeit, verbunden mit der schmerzhaften Erfahrung sich immer irgendwie in einem Korsett und unvollständig zu fühlen. Womit wir auch immer identifiziert sind, es verschleiert das Bewusstsein, es bestimmt und verzerrt unsere Selbstwahrnehmung und unseren Blick auf die Mitwelt, was häufig und unweigerlich zur Inszenierung unserer kleinen alltäglichen Dramen führt.

Zauberformel für den täglichen Hausgebrauch

Doch es gibt einen Ausweg. Die Methode heisst Disidentifikation. Sie ist eine Möglichkeit und absichtsvolle Übung, wie wir zu einer tieferen und beständigeren Erfahrung von Identität und psychologischer Freiheit finden können. Ja, man könnte fast sagen, sie ist eine Zauberformel für den täglichen Hausgebrauch. Die Früchte dieser Übung sind ganz praktisch und haben eine direkte Auswirkung auf unser tägliches Erleben:

  • wir schaffen eine psychische Distanz zum Getümmel des Alltags und erweitern dadurch unsere Grenzen

  • wir gewinnen die Freiheit und Kompetenz zu wählen, wann wir mit welchem Teil unserer selbst identifiziert oder von welchem Teil wir desidentifiziert sein wollen

  • wir erkennen nach und nach und immer tiefer, wer wir wirklich sind

  • wir pflegen bewusst den Zugang zum transpersonalen Raum

Disidentifikation Übung

Disidentifikation – die Übung

Beginne mit zwei bis drei Minuten Entspannung und Zentrierung in einer bequemen und aufrecht sitzenden Position. Beobachte deine Atemzüge um deine Aufmerksamkeit ganz nach innen zu richten. 

Dann bekräftige langsam und aufmerksam Folgendes:

 

Ich habe einen Körper und ich bin nicht mein Körper. Mein Körper mag in unterschiedlicher Verfassung sein, gesund oder krank, er mag ausgeruht oder müde sein. Ich kann meinen Körper wahrnehmen und beobachten, also ist er nicht das Ich, das beobachtet. Mein Körper ist ein kostbares Instrument der Erfahrung und des Handelns in der äusseren Welt. Ich behandle ihn gut und sorge für seine Bedürfnisse, aber er ist nicht mit mir identisch, er ist nicht das Ich. 

Ich habe einen Körper und ich bin nicht mein Körper.

 

Ich habe Gefühle und ich bin nicht meine Gefühle. Die Gefühle sind zahllos, widersprüchlich und wechselhaft; sie wechseln von Liebe zu Hass, von Ruhe zu Ärger, von Freude zu Leid. Ich aber, bin immer Ich, unverändert. Ich kann meine Gefühle wahrnehmen und beobachten, also sind sie nicht das wahrnehmende Ich.

Ich habe Gefühle und ich bin nicht meine Gefühle.

 

Ich habe Wünsche und Begierden und ich bin nicht meine Wünsche und Begierden. Wünsche kommen und gehen, sie werden durch innere Impulse oder äussere Einflüsse geweckt, wandern durch das Bewusstsein und tauchen wieder ab. Ich aber kann sie beobachten und bewerten. Also sind sie nicht das beobachtende Ich.

Ich habe Wünsche und Begierden und ich bin nicht meine Wünsche und Begierden.

 

Ich habe  Gedanken und ich bin nicht meine Gedanken. Der Verstand und die Welt der Gedanken ist ein Instrument der Erkenntnis der äusseren und inneren Welt. Die Gedanken sind wechselhaft, undiszipliniert und manchmal gar zwanghaft. Ich aber kann sie wahrnehmen und beobachten, also sind sie nicht das wahrnehmende Ich.

Ich habe Gedanken und ich bin nicht meine Gedanken.

 

Nachdem du diese Disidentifikation so gut wie möglich empfunden und so intensiv wie möglich nachvollzogen hast, bekräftige dir das Folgende:

 

Ich bin das, was in Erscheinung tritt, wenn alle Inhalte des Bewusstseins wie Empfindungen, Gefühle und Gedanken losgelassen sind. Ich bin Ich, reine Selbst-Bewusstheit. Als stilles Zentrum gewahre ich die wechselhaften und vergänglichen Empfindungen, Gefühle, Wünsche und Gedanken.

Ich erkenne und bekräftige: Ich bin reine Bewusstheit. Ich bin ein Zentrum und Ausdruck von Kraft und Absicht. Ich bin fähig, den Umgang mit meinem Körper, meinen Gefühlen und Gedanken zu lenken und zu gestalten. 

 

Mit dieser abschliessenden Bekräftigung verlagerst du bewusst und absichtsvoll die Wahrnehmung deiner Identität, von den wechselhaften Inhalten peripherer Formen zum beständigen, formlosen, reinen Gewahrsein, ausgestattet mit Willen und Kraft.

Vertiefe dich in diese Betrachtung so intensiv wie möglich. Empfinde und assimiliere die innere Transformation die dabei in Gang kommt. Wiederhole die Bekräftigung:

 

Ich erkenne und bekräftige: Ich bin reine Bewusstheit. Ich bin ein Zentrum und Ausdruck von Kraft und Absicht. Ich bin fähig, den Umgang mit meinem Körper, meinen Gefühlen und Gedanken zu lenken und zu gestalten. 

Die Disidentifikation lässt eine Qualität von Bewusstheit emergieren, die in der Psychosynthese als das Ich bezeichnet wird. Sein Auftauchen entspricht einem kleinen Erwachen. Mit dem Ich nehmen wir eine Identität an, die auf Gewahrsein beruht und als freie, neutrale Präsenz die Inhalte des Bewusstseins beobachtet. Mit diesem Schritt gewinnt die operative Ebene des Geistes ein subtilere Qualität.

Vom ersten Auftauchen bis zu einer konstanten Stabilität des Bewusstseins auf dieser Ebene braucht es etwas Zeit und Übung. Dann aber ist die Voraussetzung geschaffen, in eine weitere Ebene und Identität zu wechseln, die des transpersonalen Selbst, die frei von Form, Zeit und Inhalt sich selbst als reines Gewahrsein erkennt.

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Erfahrung mit der Disidentifikationsübung

Norbert, ein 45-jähriger Mann erzählt: 

Ich mache die Disidentifikationsübung nun seit drei Wochen zweimal täglich. Ich bin über die Wirkung sehr erstaunt. Leise, aber deutlich spürbar verändert sich mein Selbst-Gefühl. Bisher war meine Identität wie eine enge Kleidung, die mal da zwickte, mal dort spannte und sich generell als eine Nummer zu klein anfühlte. Nun aber habe ich in mir mehr Raum und mehr Luft zum atmen. Die Erfahrungen des Alltags, besonders die ärgerlichen und frustrierenden, gehen mir nicht mehr so nahe. Von Natur aus bin ich eher ein aufbrausender Typ und lasse gerne mal meinem Ärger freien Lauf, was nicht immer passend ist und mich gelegentlich in Schwierigkeiten bringt. Seit ich die Übung regelmässig mache, ist der innere Vulkan etwas abgekühlt und ich kann auch mal darüber lächeln, wenn sich jemand in der Schlange an mir vorbei vordrängelt. Ich fühle mich generell besser zentriert und viel stabiler.

Mit der Konzeption und Formulierung der Disidentifikationsübung und mit der zentralen Stellung und Wichtigkeit, die ihr in der Psychosynthese zugemessen wird, hat Assagioli Pionierarbeit geleistet. Er ist damit einer der ersten, die die Qualität und Ebene des reinen Bewusstseins in die Psychologie eingebracht und eine systematische und praktische Anleitung zur Erfahrung dazu formuliert haben. Natürlich ist das reine Gewahrsein keine Entdeckung der modernen Psychologie. Die Kultur der Disidentifikation und die Praxis der Identifikation mit dem Selbst haben eine lange Tradition in den spirituellen Praktiken sowohl östlicher als auch westlicher Herkunft. Der Verdienst von Assagioli ist  aber, die Realität dieser Bewusstseinsebene und den „Weg dahin“ in eine Sprache zu kleiden, die frei ist von religiösen Begriffen und Vorstellungen, sodass sie für den modernen Menschen mit oder ohne religiöse Verbindung welcher Denomination auch immer zugänglich und praktikabel ist.

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